An diesem Sonntag waren die Bänke in der Kirche von St. Petrus wieder bis auf den letzten Platz belegt. Die Gemeinde war zusammengekommen, um das Allerheiligste – den Leib Christi – zu feiern.
Was aber sofort ins Auge viel, war, dass das Volk Gottes in Weiß erschienen war. Dem Ruf nach Solidarität folgend, hatten sich viele den immer lauter werdenden Forderungen nach mehr Aufklärung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche angeschlossen und waren weiß gekleidet in der Kirche erschienen.
Und tatsächlich: Die Forderungen schienen so sehr an Macht gewonnen zu haben, dass Pfarrer Matthias Eggers noch vor Beginn der Messe vor die Gemeinde treten konnte, um verlauten zu lassen, dass in der nächsten Woche (09.06.) der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer dem Sonntagsgottesdienst in St. Petrus beiwohnen würde, um dann im Anschluss den gemeinsamen Dialog aufzunehmen. Der Applaus der Anwesenden war tosend.
Wie auch schon in vergangenen Jahren stand dieser Gottesdienst erneut im Zeichen der Caritas und diesmal besonders auch in dem der Besuchsdienste. Es wurde berichtet, wie sehr sich die Menschen, die aus verschiedensten Gründen nicht mehr aktiv am Gemeindeleben Teil haben können, über diese Besuche freuen. Wie gern die Freiwilligen diese Arbeit tun – egal zu wem sie kommen und egal in welcher Lebenslage sich diese Personen befinden mögen. Es wurde klar, wie wichtig diese Arbeit ist, die in der Tradition Jesu geführt wird. Wie sehr sie nötig ist.
Und auch gerade deswegen ging der Aufruf nach Unterstützung einher mit den Berichten. Wer Lust habe, ebenfalls zu helfen, möge sich einfach melden, auch weil diese Arbeit nicht unbedingt kompliziert ist, sondern sogar recht einfach ist, obgleich natürlich wichtig. Sie sei genau das, was unsere Kirche sein solle: Offen, besuchend, einladend.
Genau wie bei den Besuchsdiensten, ging es im Anschluss an den Gottesdienst in der Kirche hinaus in die Welt. Mit dem Kreuz Jesu vorweg, ging es in einer langen Prozession in Richtung Stadtgraben und danach, durch die Innenstadt, zurück zur Kirche. Anders als bei herkömmlichen Fronleichnam-Prozessionen wurde die Monstranz – das Behältnis für den Leib Jesu – in diesem Jahr nicht von Pfarrer Matthias Eggers getragen. Als Zeichen dafür, dass der Klerus besonders im Hinblick auf die Missbrauchsfälle nicht immer geeignet sei oder nicht das Recht habe das Allerheiligste der Welt zu präsentieren, wurde es bei dieser Prozession zusammen mit dem Evangeliar und dem Foto eines Betroffenen von kirchlichen Missbrauchs von den Messdiener:innen durch die Straßen Wolfenbüttel getragen.
Auch an den zwei thematischen Haltestellen der Prozession ging es um den Missbrauch in unserer Kirche. Zum einen wurde der Gemeinde eine Karte Niedersachsens präsentiert. Auf dieser Karte spannte sich ein Netz von Missbrauch, das von Pinnadel zu Pinnadel ging und so zeigte, wo Menschen Opfer geworden waren. Es stellte auf überwältigende Weise dar, wie weit das erschreckende Phänomen „Missbrauch“ tatsächlich verbreitet ist. Auch konnte objektiv festgestellt werden, dass sich in und um Hildesheim herum so viele nadeln drängten wie nirgends anders in Niedersachsen. Vielleicht auch um diese Botschaft und erschreckende Nachricht, diesen Ruf nach Gerechtigkeit, nach Aufklärung, weiter zu tragen, wurden an der nächsten Station Rosen verteilt. Rosen, die weitergegeben werden sollten. Rosen, die mit kleinen Zetteln bestückt anderen zeigen sollten, was tatsächlich gerade passiert.
Als die Gemeinde letztendlich ihren Weg zurückgelegt hatte, bot sich bei der Rückkehr in die St. Petrus Kirche ein letztes, umso ergreifenderes Bild: Die Kirche war gefüllt mit Luftballons, in schwarz und weiß. Überall waren sie zu sehen. Hinterm Altar, in den Seitenschiffen, zwischen den Bänken und auf der Kanzel. Es waren 71 weiße Ballons und hunderte schwarze. 71 weil für die 71 bekannten Opfer von Missbrauch im Bistum Hildesheim. Hunderte schwarze Ballons für die Dunkelziffer, diejenigen, von denen wir nichts wissen, jene Menschen, die zu sehr unter dem Geschehenen leiden, als dass sie öffentlich darüber reden wollen würden.
Im Angesicht dieser Tatsache, dieser erdrückenden Realität, war es nicht möglich, einfach weiterzumachen. Gesang, Jubel und Feier waren unmöglich in einer solchen Situation. Und so endete die Fronleichnams-Feier in St. Petrus. Nicht mit einem letzten Segen und Gesang, sondern mit stillem Nachdenken und dem Angesicht der schmerzenden Wahrheit des Missbrauchs und dem Verlangen nach der Wahrheit, nach Aufklärung.